Tractatus-Verleihung im Rahmen des 26. Philosophicum Lech

Lech, 22. September 2023

Feierliche Verleihung des Essaypreises des Philosophicum Lech Tractatus 2023 ­an Isolde Charim für „Die Qualen des Narzissmus“

Ein Glanzpunkt des Philosophicum Lech ist die alljährliche Verleihung des Tractatus. Gestern Abend wurde der mit 25.000 Euro dotierte Essay-Preis in feierlichem Rahmen der Philosophin und Publizistin Isolde Charim überreicht. Exemplarisch prämiert wird ihr Buch „Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung“ – „ein intellektueller Parforce-Ritt durch die Qualen des gegenwärtigen Hyper-Individualismus, von hoher denkerischer Originalität – und gesellschaftlich höchst aktuell und augenöffnend in viele Richtungen“, wie es in der Jury-Begründung heißt. Isolde Charim meinte in ihrer Dankesrede, sie gehe nun sehenden Auges in die narzisstische Falle, die solch ein Preis bedeutet: „Ich gebe mich der Illusion hin, dass ich mit meinem Ideal übereinstimme. Zumindest diesen einen Moment lang.“ Dieser Moment war verdient, erfüllt ihr Buch doch die Ansprüche des Tractatus geradezu ideal.   

Am Freitag, den 22. September, um 21 Uhr erfolgte die feierliche Verleihung des Tractatus 2023 im Rahmen des 26. Philosophicum Lech, das sich heuer unter dem Titel „Alles wird gut. Zur Dialektik der Hoffnung“ einer elementaren Emotion und Haltung vor dem Hintergrund unserer von Krisen geprägten Zeit widmet. Bereits zum fünfzehnten Mal wurde der auf Anregung von Michael Köhlmeier aus der Taufe gehobene und dank privater, anonymer Sponsoren mit 25.000 Euro hoch dotierte Essay-Preis des Philosophicum Lech vergeben. Prämiert werden Publikationen, die philosophische Fragen im weiteren Sinn ambitioniert und doch verständlich diskutieren, neue Perspektiven entwerfen und damit einen Beitrag zu einer nicht nur fachspezifischen, niveauvollen Debatte von öffentlichem Interesse liefern. Für die alljährliche Auswahl preiswürdiger Werke verantwortlich zeichnet eine hochkarätig besetzte dreiköpfige Jury, die den D-A-CH-Raum repräsentiert. Seit dem heurigen Jahr besteht diese aus der Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Essayistin Daniela Strigl,(A), der Philosophin, Kulturjournalistin und Publizistin Catherine Newmark (CH) sowie dem Literaturkritiker und Autor Ijoma Mangold (D). Unter Vorsitz des wissenschaftlichen Leiters des Philosophicum Lech Konrad Paul Liessmann (nicht stimmberechtigt) erstellte die Jury zunächst als Vorauswahl die im Juli veröffentlichte Tractatus-Shortlist. Diese versteht sich als ausdrückliche Würdigung der gewählten Publikationen wie auch als Lektüreempfehlung.

www.philosophicum.com/tractatus/shortlist/shortlist-2023

Preisträgerin des Tractatus 2023 ist die Philosophin Isolde Charim

Nach eingehender Diskussion bewertete die Jury das Buch „Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung“ als überaus preiswürdig für den Tractatus 2023. Die österreichische Philosophin und Publizistin Isolde Charim legt mit dem im September 2022 im Paul Zsolnay Verlag erschienen Werk eine ebenso überraschende wie tiefgreifende Analyse der vorherrschenden Ideologie in unserer Gesellschaft vor. Dazu aus der Jury-Begründung: „Charim macht Freuds Konzept des ‚Narzissmus‘ sowie eine Fülle von klassischen und aktuellen philosophischen und soziologischen Texten neu fruchtbar und verfolgt in immer neuen Anläufen und feineren Verästelungen die Mechanismen der ‚freiwilligen Unterwerfung‘ in unserer Gesellschaft – einer Gesellschaft, deren aufs Äußerste getriebener Individualismus selbst die Moral erfasst – und zwar auf allen Seiten des politischen Spektrums.“ Isolde Charim studierte Philosophie in Berlin sowie Wien und arbeitet als freie Publizistin sowie ständige Kolumnistin der „taz“ und des „FALTER“. Auch ihr vorigesBuch „Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert“ (Paul Zsolnay Verlag, 2018) fand nicht nur in Fachkreisen großen Anklang und wurde mit dem philosophischen Buchpreis 2018 bedacht. 2022 erhielt die Philosophin den biennal vergebenen Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. 

Feierliche Verleihung des Tractatus 2023 mit Laudatio von Catherine Newmark

Moderiert wurde die Verleihung des Tractatus von Barbara Bleisch. Unter anderem als Moderatorin der „Sternstunde Philosophie“ im SRF bekannt, war die Schweizer Philosophin in den vergangenen acht Jahren Mitglied der Tractatus-Jury. Festliche Atmosphäre verdankte der Abend nicht zuletzt auch dem musikalischen Rahmen: drei eigens für diesen Anlass verfasste Streich-Trio-Stücke des renommierten und vielseitigen Vorarlberger Komponisten und Musikers Marcus Nigsch, darunter eine Uraufführung, dargeboten vom Ensemble Trio Tractatus. Dam klangvollen Auftakt folgte die Laudatio von Catherine Newmark. „Schon die Ausgangsfrage ist von hoher Originalität: Wie kommt es, dass bei allem Grummeln und allem Moralisieren und allem gegenseitigen Beschuldigen, aber auch allen real in der Welt zu sehenden schreienden Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnissen, allen strukturellen Demütigungen und Unrechtserfahrungen, aller globaler Misswirtschaft, sich doch die große Mehrheit der Menschen im Großen und Ganzen in die Verhältnisse, so wie sie sind, fügt? Warum ist da nicht mehr Protest?“, skizzierte die Laudatorin zunächst den Ansatzpunkt des prämierten Werks und betonte: „Dass das überhaupt der Fall ist, ist an sich schon so augenöffnend wie einleuchtend. Wie es der Fall ist, das ist es, was Isolde Charim in ihrem Essay höchst raffiniert und aktuell beantwortet.“ Die Antwort heißt Narzissmus. Der allerdings, so wie Isolde Charim ihn darlege, weit über Sigmund Freud hinausgehe und die nahezu allumfassende Ideologie unserer Zeit sei, so Newmark, die des Weiteren erläuterte: Durch die Orientierung am Ich-Ideal werden wir durch dieses geknechtet, lauert es doch fortwährend im Hinterkopf und droht permanent mit dem schlechten Gewissen. Ich kürze hier natürlich stark ab, was Isolde Charim mit großer theoretischer Verve plausibel macht.“ Schließlich eröffneten sich neue, vollkommen erhellende Blicke auf die Gegenwart. Von der neoliberalen „Ich-AG“ bis zur aktuellen Gender-Debatte, vom Problem der Anerkennung von Identitäten bis zum heutigen Star-Kult. Auch auf den von Charim so bezeichneten „objektiven Narzissmus“ verwies die Laudatorin, „wo sich Erfolg nicht mehr an Taten und Ergebnissen messen lässt, sondern am Beifall eines – aktuell gar globalisierten – Publikums. Pflichterfüllung war gestern. Heute geht es um ‚Performance‘“. Dahinter stehe ein ständig forderndes Ideal, dessen Sanktion die Scham ist. Die Idee von Gesellschaftlichkeit gehe dabei verloren. Anerkennung finde nicht mehr statt – nur noch Zustimmung oder angelehnt an Hegel „wechselseitiges Versichern der eigenen Vortrefflichkeit“. Für die Gesellschaft verheiße dies nichts Gutes, meinte Newmark und verwies auf Charims Schlusssatz: „Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse.“ Die Laudatio mündete in den Appell: „Lesen sie dieses Buch! Sie werden sich und die Welt, in der Sie leben, besser verstehen.“

Dankesrede der Preisträgerin des Tractatus 2023 – Isolde Charim  

„Das ist jetzt wirklich nicht der Moment, um zu klagen“, leitete Isolde Charim ihre Dankesrede selbstironisch ein. Aber wenn man ein Buch über Narzissmus schreibe und dass Erfolg eine narzisstische Krücke ist, wenn man schreibe, Anerkennung ist die Bestätigung, dass man seinem Ideal entspricht, dies aber eine illusionäre Entsprechung ist und somit Anerkennung die Bestätigung einer Illusion – und dann dafür einen Preis bekommt, genau für dieses Buch -, dann entbehre das nicht einer gewissen Paradoxie. Sie freue sich besonders darüber, so Charim, dass es sich bei der Auszeichnung um den Tractatus handelt, weil er eine Essayistik würdigt, „die philosophische Fragen für eine breitere Öffentlichkeit verständlich diskutiert“, wie sie zitierte. „Verständlich sein ist mir ein besonderes Anliegen. Das leitet mein Schreiben“, unterstrich die Philosophin und berichtete von einer prägenden Erfahrung beim ersten Besuch der Vorlesung „Einführung in die Philosophie“ in Wien. Nachdem sie damals nicht einmal verstanden habe, worüber geredet wurde, löste sich „dieser erste philosophische Schrecken“ dann bei ihrem Studium an der Freien Universität Berlin, wo man Grundlegendes lernte. „Dort hat man gelernt, was Philosophie studieren bedeutet: nämlich lesen lernen.“ Das Stichwort aufgreifend, scherzte Charim: „Ich freue mich auch deshalb über den Preis, weil er bedeutet: Jemand hat das Buch tatsächlich gelesen.“ Damit spielte sie auf ihre Erfahrungen unmittelbar nach Veröffentlichung ihres Werkes an. So erhielt sie etliche Mails „erstaunlicher Art“, ausnahmslos von Männern, mit dem Tenor „Ich habe Ihr Buch zwar nicht gelesen, aber ich erkläre Ihnen, was sie falsch gemacht haben.“ Nicht weniger verwunderte Charim die ausbleibende Reaktion auf ihre Ausführungen über „das Gesetz zur geschlechtlichen Selbstbehauptung“, das nicht der Gegenentwurf zur herrschenden Ideologie des Narzissmus, sondern vielmehr deren Höhepunkt, die Reinform der narzisstischen „Moral“ sei. Des Shitstorms harrend, passierte nichts, was sie sich nur damit erklären könne, dass dies im letzten Kapitel ihres Buches steht und wohl nicht bis zum Schluss gelesen wurde. Eine häufige Reaktion jedoch war die Verlautbarung, man kenne diesen und jenen Narzissten aus persönlicher Erfahrung. „Narzisst ist dabei immer der Andere“, berichtete Charim, die darin eine Strategie der Abwehr sieht. „Eine Abwehr der Erkenntnis, dass wir heute alle Narzissten sind – ja sein müssen. Nicht weil wir schlechte Menschen sind – sondern weil die gesellschaftlichen Verhältnisse uns das abverlangen.“ Sie habe sich dafür entschieden, sich der narzisstischen Herausforderung, die so ein Preis bedeutet, zu stellen, so Charim: „Mit anderen Worten: Ich habe beschlossen, mich zu freuen.“ Die Dankesrede wie auch die Laudatio fanden großen Anklang und Sympathien. Zum Abschluss des Festakts betonte der Obmann des Vereins Philosophicum Lech Ludwig Muxel: „Mein Dank und meine Gratulation gilt Ihnen, Frau Charim. Sie sind wahrlich eine würdige Preisträgerin des Tractatus 2023.“

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