Rückblick auf das 28. Philosophicum Lech und Bekanntgabe des Jahresthemas 2026  

Profunde Debatten zu den Krisen der Gegenwart und breit gefächerte Reflexionen über das Unverfügbare beim 28. Philosophicum Lech

„Abenteuer. Lob der Unverfügbarkeit“ lautete der Titel des 28. Philosophicum Lech, das vom 23. bis 28. September 2025 zum anregenden Gedankenaustausch und hochbrisanten Diskussionen nach Lech am Arlberg geladen hatte. Bei der transdisziplinären Tagung eröffnete sich ein breites Panorama an tiefgreifender thematischer Erörterung mit Gegenwarts- sowie Praxisbezug. Neben namhaften Vortragenden aus Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften referierten Expert:innen auf weiteren Gebieten – von einer Astronautin in spe über einen berühmten Astrophysiker bis zur ebenso prominenten Extrembergsteigerin und einem literarischen Weltreisenden. Zum Auftakt am Dienstag, den 23. September gingen die Philosophicum Dialoge den vorherrschenden Krisen, insbesondere jener unserer westlichen Demokratien auf den Grund. Am Mittwoch folgten beim Remus-Impulsforum eine lebhafte Debatte zur Frage: „Europa: Spielplatz der Abenteurer?“ sowie anschließend der philosophisch-literarische Vorabend als unterhaltsame Einstimmung aufs Jahresthema. Mit der offiziellen Eröffnung des Symposiums samt Impulsreferat am Donnerstag startete die Vortragsreihe. Wie auch die feierliche Verleihung des Tractatus am Freitag fand das Symposium insgesamt großen Zuspruch und weckte beim Publikum die Diskussionsfreude.

 

Auf Anregung des Vorarlberger Schriftstellers Michael Köhlmeier und des damaligen Bürgermeisters von Lech am Arlberg Ludwig Muxel 1997 ins Leben gerufen, lädt das Philosophicum Lech alljährlich zur erkenntnisreichen Erörterung und Diskussion einer grundlegenden Thematik in Bezugnahme auf brennende Fragen unserer Zeit. Auch das 28. Philosophicum Lech vom 23. bis 28. September 2025 eröffnete unter dem Titel „Abenteuer. Lob der Unverfügbarkeit“ neue Perspektiven auf gesellschaftlich relevante Diskurse der Gegenwart. Die thematische und analytische Auffächerung der diesjährigen Materie reichte von der Begriffs- und Mentalitätsgeschichte über Kultur- und Kunsthistorie bis zu Tourismus, Astrophysik, Expeditionsberichten und Belletristik. Zudem widmeten sich die Veranstaltungen im Vorfeld des Symposiums den brisanten gegenwärtigen Entwicklungen und bot das gleichfalls hochkarätige Rahmenprogramm abwechslungsreichen Kulturgenuss. Seit vielen Jahren zählt das Philosophicum Lech mehr als 600 Teilnehmer:innen und war heuer wieder so gut wie ausgebucht. Der somit voll besetzte große Saal der im Vorjahr eröffneten Lechwelten, des Kultur- und Kongresshauses von Lech am Arlberg, präsentierte sich als funktionell wie auch ästhetisch ansprechender Rahmen und fand ebenso positive Resonanz wie das sich über sechs Tage erstreckende Programm. Dessen Gestaltung obliegt der voriges Jahr installierten Intendanz: derSchweizer Philosophin, Journalistin und Autorin Barbara Bleisch, bekannt u. a. als Moderatorin der Sternstunde Philosophie, sowie dem gleichermaßen renommierten  Philosophen und langjährigen wissenschaftlichen Leiter Konrad Paul Liessmann. Deren Ankündigung des Themas im kommenden Jahr erntete – wie auch sämtliche Vorträge und Diskussionen – starken Applaus.

 

Philosophicum Dialoge – vertiefende Erörterung brandaktueller Entwicklungen

Am Dienstagnachmittag, den 23. September befassten sich die Philosophicum Dialoge mit dem aktuell vielfältigen, komplexen Krisenszenario. Beim I. Panel zur Frage „Wie ist die Lage?“ diskutierten Barbara Bleisch und Konrad Paul Liessmann, der erst kürzlich das Buch „Was nun? Eine Philosophie der Krise“ veröffentlicht hat. Unter Moderation von Martin Haidinger, Redaktionsleiter der Ö1-Wissenschaftssendereihe Science Arena, gab die Schweizer Philosophin zunächst zu bedenken, dass bezüglich der negativen Entwicklungen statt dem Begriff Krise als vorübergehendem Phänomen besser jener von allmählich fortschreitenden Longue-Durée-Prozessen passe, denen es entgegenzusteuern gilt. Auf eine teils durchaus kontroverse Debatte über die Bedrohung der Meinungsfreiheit folgte eine Wertediskussion in Bezug auf Universalismus versus Identitätspolitik mit Verweis auf die Tugendethik als willkommene Alternative zur oft vorherrschenden Moral als „eine Strategie der politischen Erpressung“, so Liessmann. Die eigentliche Bedeutung von Toleranz wurde dabei ebenso thematisiert wie der Rückfall in voraufklärerische Zeiten. In Hinblick auf den zunehmenden Erfolg rechtspopulistischer Parteien mündete das Gespräch in Überlegungen, wie in liberalen Demokratien wieder ein stärkeres Gefühl von Gemeinschaft herbeizuführen sei, wofür Bleisch plädierte und die Schweizer Konkordanzdemokratie als ein positives, Akzeptanz förderndes Beispiel anführte.  

 

Zum II. Philosophicum Dialog unter dem Titel „Was ist zu tun?“ waren Oliver Marchart, Philosoph und Soziologe mit Schwerpunkt auf Demokratietheorie sowie politische Ästhetik, und Lea Prix, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund geladen. Moderiert von Simone Miller, Redakteurin der Philosophiesendung Sein & Streit, debattierten die beiden Expert:innen über die Krise unserer westlichen Demokratien und Möglichkeiten ihrer Überwindung. Ausgehend von der These, dass die liberale Demokratie besser dazu geeignet ist, vernünftige Politik hervorzubringen als andere politische Ordnungen, verwies Prix anfangs darauf, dass deren Funktionieren davon abhängt, inwieweit sie ihren normativen Grundsätzen – Freiheit, Gleichheit, Solidarität –  in ausreichendem Maße gerecht wird. Ihr Dialogpartner bezeichnete die Demokratie als ein Regime der Unruhe, wobei die Aushaltungsprozesse prinzipiell unabschließbar sind und immer über Konflikte angetrieben werden. Das Problem ergebe sich erst einmal darin, dass Politik Komplexitäts- und Unsicherheitsbewältigung bedeutet. Zudem habe die neoliberale Revolution vor 40 Jahren einen derartigen Erfolg gezeitigt, dass ein Präkarisierungsregime entstanden sei. Prix nannte als dieses fördernde Faktoren die Globalisierung und Digitalisierung. Da das Gleichheitsversprechen einzulösen nicht mehr gelinge, werde ein harter Verteilungskampf wahrgenommen und als solcher insbesondere von Rechtspopulisten politisch adressiert. Zur Zukunftskrise gesellt sich eine politische Vertrauens- sowie Visionskrise, konstatierte Marchart, der nach Jahrzehnten der Entdemokratisierung eine Redemokratisierung für notwendig erachtet. Prix plädierte u. a. dafür, die Demokratie als hoch qualitative Lebensform verständlich zu machen. Befragt nach ihren Hoffnungen, meinte Marchart, dass Demokratie immer wieder unvorhersehbare Wendungen zulässt, während Prix betonte, dass „alle der Hoffnung für die Demokratie verpflichtet sind“.

 

Remus-Impulsforum – lebhafte Debatte zu einem hochaktuellen Thema 

Das Remus-Impulsforum, benannt nach dessen Sponsor, fand heuer erstmals bereits am  Mittwoch, den 24. September statt. Unter Leitung des Journalisten und Fernsehmoderators Michael Fleischhacker stand die Podiumsdiskussion unter dem Titel „Europa: Spielplatz der Abenteurer?“. Die Bedrohung durch Putin auf der einen, Belehrungen von Trump auf der anderen Seite sowie aufbrechende politische Gräben in Europa werfen die Frage auf, ob sich das Friedensprojekt EU neu erfinden muss und es Mut und Abenteuergeist braucht, um auf die Weltbühne zurückzukehren. Es debattierten der bekannte Medienwissenschaftler, Kommunikationstheoretiker und Publizist Norbert Bolz, die ehemalige Außenpolitik-Sprecherin der Grünen im österreichischen Nationalrat Ewa Ernst-Dziedzic, die prominente Schweizer Politik- und Wirtschaftsphilosophin und ehemalige Moderatorin der „Sternstunde Philosophie“ Katja Gentinetta sowie die renommierte Politikwissenschaftlerin und Bestsellerautorin Ulrike Guérot. In Bezugnahme auf die angesprochene Dreifachkrise mahnte Ernst-Dziedzic, dass Europa sich nicht einschüchtern lassen dürfe. Es gelte vielmehr, die Verteidigungsfähigkeit auszubauen und zugleich an den Gründungswerten des europäischen Projekts festzuhalten. Gentinetta sah in den jüngsten russischen Provokationen eine ernste Eskalation und warnte vor falschen Annahmen: Europa müsse begreifen, dass Putins Logik nicht ökonomisch, sondern machtpolitisch geprägt ist. Es handle sich um eine hybride Konfliktführung seitens Russland und nicht um einen Krieg der Narrative – auf den Fleischhacker verwies. Guérot stellte die gängige Schuldzuweisung infrage. Der Ukrainekrieg sei ein Stellvertreterkonflikt, in dem auch der Westen Verträge gebrochen habe und „momentan die Zündler die Europäer sind“. Sie forderte eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands und warnte vor ideologischer Verhärtung. Bolz wiederum warnte vor Illusionen. Europa sei militärisch kaum handlungsfähig und habe sich in den Traum vom ewigen Frieden verrannt. Nur eine Rückbesinnung auf ökonomische Stärke könne die EU zukunftsfähig machen. In der teils hitzigen Debatte prallten zwei Grundpositionen aufeinander: Wehrhaftigkeit und Verteidigung demokratischer Werte versus Neutralität und Neuordnung mit Russland.

 

Philosophisch-literarischer Vorabend – spannender Aufbruch ins Jahresthema   

Ebenfalls am Mittwoch folgte als lang bewährtes und besonders reizvolles Format des Veranstaltungsreigens der philosophisch-literarische Vorabend. Von drei atmosphärischen Nacherzählungen Michael Köhlmeiersschlug Konrad Paul Liessmann mit einer philosophischen Ad-hoc-Interpretation jeweils einen Bogen zum Jahresthema. Als Erstes trug Köhlmeier die klassische Tragödie des Ödipus vor: vom verhängnisvollen Orakel bis zu Antigones Konflikt mit Kreon, der sie für das untersagte Begräbnis ihres Bruders bestraft. Der auch durch Sigmund Freuds psychoanalytische Deutung bekannte Mythos wurde von Liessmann als Lehrstück über die Unverfügbarkeit gelesen: Von Orakeln und Prognosen zum Versuch verleitet, die Zukunft zu beeinflussen, führt dieser genau zu jener Katastrophe, die vermieden werden sollte. Ausgeliefert bleibt der Mensch den Zufällen und eigenen Emotionen. Es folgte das Roma-Märchen „Der Mond“ über „ein herzallerliebstes Mädchen“ mit dem Makel eines Wolfsgebisses, das sich als Bestie und Mörderin ihrer Familie entpuppt. Der ihr entkommene Bruder findet Zuflucht bei einer Frau, bis er fast doch noch der mordlustigen Schwester zum Opfer fällt und schließlich für immer zwischen den beiden Frauen gefangen bleibt – worauf der Mond ihm rät: „Halte es aus.“ Die Botschaft dieses Märchens sah der Philosoph in der Frage, ob solch ein Eingespannt-Sein zwischen zwei Polen, zwei Extremen, zwischen Glück und Vernichtung, ohne Aussicht auf eine Entscheidung, auszuhalten sei. Die dritte Geschichte stammte von Stanislaw Lem und handelte von zwei Freunden – einem Träumer, der Schriftsteller wird, und einem Tatmenschen, der als Astronaut eine nahezu lichtschnelle Reise durch den Weltraum wagt, mit der er sich 200 Jahre in die Zukunft katapultiert. Zurückgekehrt auf die Erde muss er erkennen, nicht aufgrund seines exzeptionellen Abenteuers gefeiert zu werden, sondern allein wegen seiner einstigen Bekanntschaft mit dem verehrten Dichter. Liessmann sah in der Erzählung zwei Abenteuerarten gespiegelt, wobei der Vorrang poetischer Erkundung vor dem technologischen Wagnis angesichts unseres linearen Fortschrittsbegriffs eine überraschende Entwicklung von Wertigkeiten ist.   

 

Attraktives Rahmenprogramm – wie die feierliche Tractatus-Verleihung

Donnerstag, den 25. September boten die beiden vormittäglichen Veranstaltungen wieder die Gelegenheit zum erfrischenden Gedankenaustausch, verbunden mit kulinarischen oder auch ästhetischen Genüssen. Bei Philosophieren am Berg im Panoramarestaurant Rüfikopf auf 2.350 m Seehöhe, organisiert in Kooperation mit dem Philosophie Magazin, führte Barbara Bleisch ein Gespräch mit Jonas Grethlein, dessen Referat am Freitag die heurige Vortragsreihe eröffnete. Als Alternative bot sich das Philosophieren im Kunsthaus Bregenz, wo dessen Direktor Thomas D. Trummer in Diskurs mit Robert Pfaller, einem weiteren Referenten des diesjährigen Symposiums, trat und die Teilnehmer:innen anschließend zum Rundgang durch das Ausstellungshaus für herausragende zeitgenössische Kunst einlud. Ein weiterer Fixpunkt des Rahmenprogramms war das wie immer erstklassige Konzert am Samstagabend, um 21.00 Uhr, zu dem in Kooperation mit der Hilti Foundation geladen wurde. Das Ensemble Faltenradio begeisterte mit ebenso überraschenden wie kongenialen Klängen unter dem Titel „Abenteuer“ trifft „Überschall“. Ebenfalls höchsten Hörgenuss versprach der eigens für den Festakt komponierte Streich-Trio-Zyklus des vielfach prämierten Komponisten und Musikers Marcus Nigsch, dargeboten vom Ensemble Trio Tractatus als musikalische Umrahmung der feierlichen Tractatus-Verleihung, am Freitag, den 26. September in den Lechwelten. Der Essaypreis des Philosophicum Lech gilt als einer der renommiertesten auf diesem Felde und ist dank privater Sponsoren mit 25.000 Euro hoch dotiert. Als Preisträgerin des Tractatus 2025 wurde die deutsche Philosophin Eva Weber-Guskar begrüßt, deren Buch „„Gefühle der Zukunft. Wie wir mit emotionaler KI unser Leben verändern“ exemplarisch prämiert wurde. Der Festakt mit Laudatio eines Tractatus-Jury-Mitglieds, heuer der Schweizer Philosophin, Kulturjournalistin und Publizistin Catherine Newmark, und der Dankesrede der bzw. des mit der Auszeichnung Bedachten, gilt als ein alljährliches Glanzlicht im Programm.

 

Feierliche Eröffnung des 28. Philosophicum Lech mit exzellentem Impulsreferat   

Die offizielle Eröffnung des 28. Philosophicum Lech erfolgte am Donnerstag, den 25. September, um 16.00 Uhr. Den Willkommensworten des Bürgermeister von Lech am Arlberg Gerhard Lucian folgte die Begrüßung durch Ludwig Muxel, Obmann des Vereins Philosophicum Lech, sowie die Rede des Vorarlberger Landeshauptmanns Markus Wallner. Wie gewohnt fand der Festakt seinen krönenden Abschluss mit dem Impulsreferat der Intendanz, das von Konrad Paul Liessmann unter dem Titel „Abenteuer. Lob der Unverfügbarkeit“ gehalten wurde. Einleitend die Anfangsverse des Nibelungenlieds rezitierend, sprach er diesen den Charakter einer veritablen Theorie des Abenteuers zu. Denn „ohne rühmenswerte Helden, ohne mühe- und qualvolle Kämpfe, ohne exzessive Freuden und Feste, aber auch ohne Weinen und Klagen, ohne Trauer und Tod gibt es kein Abenteuer“. Im Abenteuer gehe es um Menschen, „die bereit sind, sich der Gefahr und dem Unabwägbaren, dem Unverfügbaren und dem Unbekannten, dem Unabsehbaren auszusetzen, und die diese Unbestimmtheit bewusst suchen und aufsuchen.“ In Anlehnung an den Soziologen Georg Simmel erläuterte er, dass im Abenteuer die Einheit von Souveränität und Ausgeliefertsein erfahren wird – und damit „die Erfahrung des Unverfügbaren in einer ansonsten geordneten Welt“. Auch Religion könne als Abenteuer begriffen werden, worauf der dänische Philosoph Sören Kierkegaard als „Sprung in den Glauben“ verwies – „durch den sich der religiöse Mensch von allen Sicherheiten der Gemeinschaft und der Vernunft löst und sich ganz einem Gott anvertraut.“ Ein Philosoph sei der wahre „Abenteurer des Geistes“, erklärte Liessmann, da er das Unlösbare so behandelt, als wäre es lösbar. Die Moderne als Lebensform strebe allerdings danach, das Unverfügbare auszuschalten, ob in Natur, Technik, Beziehungen, Geburt oder Tod. Als einziger Moment unseres Lebens bleibt die Geburt unverfügbar. Dass wir über die Tatsache unseres Da-Seins nicht verfügen, sei „der große und letzte Skandal der Moderne“. Abschließend stellte der Philosoph eine herausfordernde Frage in den Raum: „Wie wäre es, wenn sich Menschen, die sich in ihren Weltverhältnissen und ihrer Deutung derselben so unterscheiden, dass eine Kommunikation kaum möglich erscheint, wie wäre es, wenn sich Mächtige und Ohnmächtige, Alte und Junge, Linke und Rechte einmal darauf einigten, über das ihnen gleichermaßen Unverfügbare zu sprechen?“ Dafür bedarf es eines Herzens für Abenteuer, denn „es wäre im wahrsten Sinn des Wortes eine Ausfahrt ins Ungewisse“.

 

10 Vorträge zum Lob der Unverfügbarkeit als abenteuerliches Themenspektrum

Der erste Vortrag am Freitag, den 26. September wurde von Jonas Grethlein, Professor für Griechische Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg, gehalten und führte in „Das Abenteuer Kontingenz“ ein. In seinen Ausführungen erschloss Grethlein die historische und systematische Dimension des Abenteuerbegriffs. Ausgehend von modernen Mikroabenteuern als „Ausbruch vom Alltag mit minimalen Mitteln“, kontrastierte er diese mit der mittelalterlichen aventiure und den Irrfahrten des Odysseus. Anhand letzterer verdeutlichte er, dass Abenteuer stets ein narratives Moment besitzen, wobei das Wagnis existenzieller Unsicherheit mit der in der Erzählung implizit präsenten Sicherheit des Gelingens einhergeht. Im Zentrum seiner Analyse stand die Kontingenz, verstanden als der Raum des Anders-Sein-Könnens. Waren vormoderne Kulturen von Schicksalskontingenz geprägt, verschrieb sich die Moderne der Beliebigkeitskontingenz, der Vorstellung grenzenloser Gestaltbarkeit. Das Mikroabenteuer verkörpert diesen Paradigmenwechsel, indem es die existentielle Gefährdung systematisch ausschließt und damit das Abenteuer seiner eigentlichen Substanz beraubt. Dabei offenbart sich weniger eine Selbstverzwergung als ein Anspruch auf totale Verfügbarkeit und Kontrolle sowie ein paradoxes Moment: Der Versuch, Kontingenz zu beherrschen, ruft neue Schicksalskontingenzen hervor.

 

Darauf folgte das Referat von Robert Pfaller, Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz, über „Das Unausgesuchte“. Anhand schlagender Beispiele führte Pfaller vor Augen, wie die Moderne einerseits unablässig Verfügbarkeit steigert, andererseits jedoch neue, blinde Unverfügbarkeit hervorbringt – spürbar etwa in Entscheidungsparalysen angesichts unendlicher Optionen oder im Verlust verlässlicher Lebensformen. In Bezugnahme auf Epiktet wandte Pfaller sich gegen die Illusion, es gäbe die eine richtige Wahl: Wer darauf beharrt, gerate in lähmende Starre und verlerne, Rollen anzunehmen und auszufüllen. Zugleich betonte der Philosoph die begrenzte Fremdheit und Ungewissheit des Abenteuers, das nicht mit existenzieller Bedrohung konfrontiere, sondern mit kalkulierbaren Herausforderungen, die narrativ bewältigt werden können. Als Alternative präsentierte er das gemäß Michel Leiris „alltägliche Heilige“ – Rituale, Feste und Gewohnheiten, die Verbindlichkeit stiften und Lust ermöglichen. Lebendigkeit erwachse nicht unbedingt aus dem Unverfügbaren, Abenteuerlichen, sondern ebenso aus stabilen, geteilten Bedeutungen des Alltags. Bei der anschließenden Diskussion tauschten sich in einer ersten Runde die beiden Referenten und die Moderatorin Barbara Bleisch aus, bevor auf Fragen der Teilnehmer:innen eingegangen wurde. Auch im weiteren Verlauf der Tagung folgte jeweils zwei Vorträgen eine Publikumsdiskussion, mit wechselnden Moderator:innen.    

 

Im ersten Vortrag am Nachmittag beschäftigte sich Valentin Groebner, Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern, mit „Tourismus und Beabenteuerung“. Am Beispiel riskanter Expeditionen in den kolumbianisch-panamesischen Darién-Dschungel durch deutsche Anbieter präsentierte er die Vermarktung von „Authentizität“ und „Freiheit“ als Versprechen, während Gefahren, humanitäre Krisen oder auch Machtasymmetrien ausgeblendet bleiben. Im Weiteren zeigte Groebner auf, dass der Abenteuer- und „Dark Tourism“ an lange Traditionslinien anknüpft: von der aristokratischen Grand Tour des 17. und 18. Jahrhunderts über die Pilgerreisen ins Heilige Land bis zu organisierten Reisen zu Kriegsschauplätzen im 19. und 20. Jahrhundert. Stets handelte es sich bei solchen Reisen um ein Privileg wohlhabender Schichten. Tourismus erweise sich dabei weniger als reales Erleben, denn als eine kulturell inszenierte Erzählung, die soziale Distinktion erzeugt und dabei den Reisenden im Mittelpunkt einer exklusiven Selbstdarstellung positioniert. Tourismus, so das Fazit des Historikers, sei untrennbar mit Status, Ungleichheit und ökologischer Belastung verbunden. Das Abenteuer bleibt ein symbolisches Konstrukt – ein Kopfkino, das Authentizität verspricht, doch primär Selbstvergewisserung und soziale Abgrenzung produziert.

 

Darauf folgte der Vortrag der Journalistin und Autorin Petra Ahne zum Thema „Wildnis: eine missverstandene Sehnsucht“. In diesem reflektierte die Referentin die kulturelle Konstruktion von Wildnis als Sehnsuchtsort jenseits der Zivilisation. So illustrierte sie am Beispiel von Alexis de Tocquevilles Amerika-Reise, wie die Natur seit dem 19. Jahrhundert zugleich als Bedrohung und als Projektionsfläche romantischer Gefühle verstanden wurde. Gegenwärtig wird Wildnis oft als vermeintlich unberührte Landschaft touristisch inszeniert, wie in Nationalparks. Die Frage, ob die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit tragfähig ist, verschärft sich durch den Klimawandel und das Artensterben. Während klassische Naturschützer Wildnis als eigenständigen Wert verteidigen, so Ahne, betonen „New Conservationists“, dass Mensch und Natur unauflöslich miteinander verflochten sind und auch bewirtschaftete Landschaften hohe Biodiversität aufweisen können. Wildnis sei weniger ein geographischer Raum als eine kulturelle Chiffre, die unser Verhältnis zur Natur kritisch hinterfragen lässt.

 

Am Vormittag des Samstags, 27. September rückte der Weltraum in den Fokus. Im ersten Vortrag unter dem Titel „Robert F. Scotts letzte Worte oder: Warum schicken wir nicht einfach Roboter?“ berichtete die Weltraumphysiologin Carmen Possnig eindrücklich über ihre Erfahrungen bei der Vorbereitung auf einen Weltraumflug. 2022 wurde sie als Mitglied der Astronautenreserve der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) ausgewählt. In deren Auftrag verbrachte sie 2017 bis 2018 einen 13-monatigen Aufenthalt als Ärztin auf der Antarktisstation Concordia. In ihrem Vortrag schilderte sie anhand eigener Erfahrungen, wie Isolation, Dunkelheit und extreme Kälte körperliche und psychische Anpassungen erfordern, die Parallelen zu Raumflugbedingungen aufweisen. Possnig machte deutlich, dass Weltraummissionen neben technischem Know-how vor allem Teamfähigkeit und psychische Resilienz erfordern. Weshalb Menschen trotz hoher Risiken in den Weltraum reisen, obwohl Roboter scheinbar effizienter und sicherer Daten liefern, beantwortete sie damit, dass nur Astronaut:innen Empfindungen, Wahrnehmungen und existenzielle Erfahrungen vermitteln können. Historische Vorbilder wie Polarforscher Robert Falcon Scott und Menschen im All verkörpern den Willen zur Exploration, zur Erzählung von Abenteuern und zur Selbsterkenntnis – Aspekte, die kein technisches System ersetzen kann.

 

Im Anschluss daran referierte Heino Falcke, Professor für Astrophysik und Radioastronomie an der Radboud Universität Nijmegen und Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn, über „Die Unverfügbarkeit der Welt. Ein Blick aus dem Universum“. Der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler entfaltete zentrale Fragen der modernen Astrophysik im Spannungsfeld zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und metaphysischer Reflexion. Ausgehend von seiner Rolle bei der erstmaligen Bildgebung eines Schwarzen Loches beschrieb Falcke die Fortschritte der Astronomie als Errungenschaften kollektiver Forschung, die bis an die Grenzen von Raum und Zeit führen. Dabei betonte er, dass trotz immenser Datenfülle und Prognosekraft der Physik die Welt prinzipiell unverfügbar bleibe, da Entropie, Gravitation und Quantenunsicherheit eine vollständig deterministische Beschreibung verhindern. Mit einem historischen Rückblick auf die babylonische Astronomie wies der Astrophysiker darauf hin, dass der Mensch seit jeher versucht, den Himmel zu deuten, und wissenschaftlicher Fortschritt stets auch eine spirituelle Dimension umfasse. Die Unverfügbarkeit der Welt sei die Grundlage menschlicher Freiheit wie auch wissenschaftlicher Neugier.

 

Das erste Referat am Nachmittag hielt die Autorin, Philosophin und philosophische Praktikerin Lisz Hirn zum Thema „Wagenden hilft das Glück? Von der Ethik des Abenteuers“. Ausgehend von der Frage, weshalb Menschen das Abenteuer suchen, nahm Hirn die Abenteuerlust als ethisch relevantes Phänomen in den Blick. Nicht nur für das Abenteuer sei das Unplanbare entscheidend, verwies sie auf die These des Philosophen Odo Marquart, dass erst wenn einer geplanten Handlung etwas Unvorhergesehenes, Überraschendes, Ungeplantes widerfährt, überhaupt erst eine Erzählung ermöglicht und notwendig würde. Abenteurer:innen setzen sich der Unsicherheit, Gefahren und potenzieller Verletzlichkeit aus, wodurch sie sich von bloßen Missgeschickserleidenden ebenso unterscheiden wie von jenen, die aus Eroberungs- oder Profitstreben handeln. Während Sigmund Freud die Abenteuerlust pathologisierte, hebt die heutige Wagnisforschung deren Wert hervor. Ihr Begründer Siegbert Warwitz unterscheidet den Typus des Thrillseekers, der einen kurzen, intensiven Kick anstrebt, und den auf eine dauerhafte Wertschöpfung ausgerichteten, nach ethischen Maßstäben handelnden Skillseeker. Letzterer zeige, dass das Eingehen von Risiken zu gesteigerter Souveränität und Selbstbestimmung führen kann. Abschließend kam Hirn auf die heutige übersteigerte Sicherheitskultur zu sprechen, die Abenteuerlust unterdrückt und somit die Risikokompetenz mindert, was sie exemplarisch am Kinderspielplatz zeigte. Das Wagen kalkulierbarer Gefahren sei für Lernprozesse entscheidend und von individuellem sowie gesellschaftlichem Wert.

 

Um 17.15 Uhr folgte der Vortrag „Warum Abenteurer nicht aufbrechen wollen“ der Extrem-Bergsteigerin, Diplom-Bergführerin, Mental-Coachin sowie Referentin und Autorin Evelyne Binsack. Mit der Expedition zum Nordpol 2016 bis 2017 vollendete Binsack ihre Trilogie der „Drei Pole“, bei der sie den höchsten, südlichsten und nördlichsten Punkt der Erde aus eigener Kraft erreichte. Bei ihrem spannenden Bericht samt Schlaglichtern auf ihre Expeditionen beschrieb Binsack das Aufbrechen zu Extremsituationen als einen den inneren Widerstand überwindenden Prozess. Das bewusste Eintreten in Unsicherheit und Gefahr verdeutlichte sie am Beispiel der lebensbedrohlichen Bedingungen in der „Todeszone“ am Mount Everest, wo ihr der Anblick erfrorener Bergsteiger die existentielle Nähe von Erfolg und Scheitern vor Augen führte. Ins Zentrum ihrer Überlegungen stellte Binsack die Willenskraft als eine trainierbare, doch endliche mentale Ressource, die mehr ist als Motivation. Abenteuer erscheinen ihr weniger eine äußere Leistung als vielmehr innere Auseinandersetzung mit Angst, Erschöpfung und Wahrnehmungsverlust. Wer seine Willenskraft kultiviert, könne das Abenteuer als eine Schule der Selbstüberwindung und Freiheit begreifen.

 

Am Sonntag, den 28. September beleuchtete der renommierte Kunsthistoriker und Museumsleiter, ehemaliger  Generaldirektor der Albertina in Wien, Klaus Albrecht Schröder das Thema „Der Aufbruch ins Ungewisse oder: Der Abenteurer als Topos des modernen Künstlers“. Die Genese und Funktion des Künstlerbildes als Abenteurer unter kunst- und kulturgeschichtlicher Perspektive nachverfolgend, legte Schröder dar, dass Künstlerbiografien seit der Renaissance von Legenden durchzogen sind, die Virtuosität, Genialität und außergewöhnlichen Status hervorheben – vom früh begabten Hirtenknaben über den „Deus artifex“ bis zum Erfinder neuer Gattungen. In der Moderne wurde diese Mythisierung transformiert, wie er erklärte: Während die Akademien Virtuosität und Regelbefolgung forderten, etablierten Dadaisten, Surrealisten und spätere Avantgarden den Regelverstoß als Prinzip und setzten auf die Macht des Zufalls als künstlerische Strategie. Damit tritt erstmals der Topos des Künstlers als Abenteurer hervor – als jemand, der bewusst das Unvorhersehbare riskiert. Im 20. und 21. Jahrhundert erfährt diese Metaphorik neue Aktualität, was Schröder an Künstlerpersönlichkeiten wie Marcel Duchamp, Niki de Saint Phalle oder auch Marina Abramović festmachte. Kunst wird zum Experiment an den Grenzen von Kontrolle, Körper und Existenz. Als Abenteuer sei hier nicht nur die ästhetische Offenheit zu sehen, sondern auch die existentielle Bereitschaft, Scheitern, Verletzlichkeit oder Kontrollverlust in Kauf zu nehmen. Schröder deutet den Abenteurer-Topos im Sinne Hans Blumenbergs als absolute Metapher: ein Bild für die fundamentale Verunsicherung des modernen Künstlers angesichts einer Welt, die sich als unberechenbar und unverfügbar erweist. Gleichwohl bewahre das Abenteuer die Hoffnung, dass Kunst trotz Zufall und Risiko in ihrer Erscheinung vollendet sein kann.

 

Den stimmungsvollen Schlusspunkt setzte der als Weltreisender bekannte und für seine Erzählkunst geschätzte Schriftsteller Christoph Ransmayr unter dem Titel „Aus dem Atlas eines ängstlichen Mannes“ – wie auch sein zuletzt erschienenes Buch heißt. „Was ist bloß aus unseren Abenteuern geworden …“ lauten die ersten Worte der Vorrede zu seinem ersten Roman, mit der Ransmayr seinen größtenteils als Lesung gehaltenen Vortrag einleitete. „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ heißt der 1984 veröffentlichte Roman, in dem er die Geschichte der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition von Carl Weyprecht und Julius Payer nachzeichnet und damit unter Literaturkennern damals bereits für Aufsehen sorgte. Während das Personal und die Landschaften seiner weiteren Romane „aus dem Reich der Imagination, der Erfindung, der Fantasie, des Traums kamen und geschrieben wurden“, wie Ransmayr erklärte, „waren so gut wie alle diese Erzählungen oder sind alle diese Erzählungen der Wirklichkeit, der Erfahrung der Welt gewidmet. Und was in ihnen zur Sprache kommt, sind meine Erfahrungen der Welt, also mehr oder weniger autobiografische Erfahrungen.“ Anschließend las der Weitgereiste seine Erzählung „Der Weg nach Surabaya“ aus dem gleichnamigen Sammelband, gefolgt von zwei weiteren seiner fesselnden Geschichten. Die Zuhörer:innenschaft bedankte sich mit anhaltendem Applaus.   

 

Termin und Thema des 29. Philosophicum Lech

Bevor das Symposium beim traditionellen „Vorarlberg Brunch“ seinen kulinarischen Ausklang fand, bedankte sich Ludwig Muxel bei allen Mitwirkenden und Unterstützern sowie den Referent:innen und Teilnehmer:innen. Letztere erwarteten bereits mit Spannung das von der Intendanz verkündete Thema des kommenden Jahres: „Betreutes Denken. Die neue Lust an der Unmündigkeit“ lautet der etwas provokante, wenngleich Entdeckungsfreude weckende Titel des 29. Philosophicum Lech, das vom 22. bis 27. September 2026bereichernde Erkenntnisse, gehaltvolle Diskussionen und eine so inspirierende wie schöne Zeit in Lech am Arlberg verspricht.

 

Es wird empfohlen, sich auf der Website über den Start der Online-Anmeldung (voraussichtlich im April 2026) am Laufenden zu halten, um einen der begehrten Teilnahmeplätze zu erhalten.

 

Weitere Informationen auf www.philosophicum.com

 

Pressekontakt:

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